rill – composition for ensemble and electronics by Adam McCartney and Thomas Grill

“rill”, englisch für “Rinne”, bezeichnet einen Abdruck im Boden, verursacht durch die Erosionswirkung eines weichen, fließenden Wasserstroms.

Die Komposition “rill” wurde im Rahmen des künstlerischen Forschungsprojekts “Rotting sounds” (FWF AR-445) entwickelt und thematisiert Prozesse binärer Erosion, die generell untrennbar mit digitaler Datenspeicherung verknüpft sind.
Eine digitale Reproduktion wird allgemein als perfekte Kopie des Originals angesehen. Dies ist in der Tat ein Irrglaube, denn digitale Geräte und digitale Speicher sind physikalischen Gesetzen unterworfen, so wie jedes andere materielle Medium. Degradation in digitalen Medien tritt auf der Bit-Ebene auf, also unterhalb der darauf basierenden symbolischen Ebene, in der Komponist/inn/en mit digital gesetzten Partituren oder Musiker/innen mit elektronischen Instrumenten ihre Kontrolle ausüben.
Sich aus diesen tiefliegenden Veränderungen ergebende Artefakte liegen typischerweise außerhalb des künstlerischen Konzepts und bringen ästhetische Brüche mit sich, können aber andererseits Impulse für neue Ideen geben.

Die Form des Stückes dient als Plan für zwei musikalische Elemente: Melodien im polymodalen Raum, sowie eine verzögerte Tremolo-Textur, um die “Ränder der Melodien zu verwischen”.
Grundlage für die Partitur ist eine Reihe von 12 kurzen Modulen, die einem harmonischen Schema folgen, basierend auf einem absteigenden Modus: c a#, a, g#, f#, f, eb, d.

Das Stück wurde mittels der textbasierten Notensatzsprache Lilypond formuliert. Diese Art der Repräsentation von Partituren bietet formalisierte Kontrolle über die Musik bzw. die Modellierung von musikalischen Ideen in abstrakter Form. Die in der Komposition verwendeten musikalischen Ideen erscheinen derart auf der untersten Repräsentationsebene als ein Strom von Bits.
Einfache digitale Erosionsprozesse in der Form stochastischer Bit-Flips wurden auf dieser Ebene angewendet, wodurch über die Zeit hunderte von Varianten des Stücks entstanden. Diese Manipulation der Notation ohne jegliche musikalisch informierte Absichten erzeugt Variationen außerhalb der üblichen Schemata.
Eine Analyse dieses Erosionseffekts zeigt jedoch, dass die Wirkungen nicht erratisch sind, sondern dass bestimmte Formelemente immer weiter verstärkt bzw. freigelegt werden – dem Abtragen durch ein stetiges Rinnsal nicht unähnlich.

Die fortschreitenden Erosionsvorgänge wirken sich auch auf die Leserlichkeit der Partitur aus: mehr und mehr Notationsfehler, also Unspielbarkeiten, entstehen und erfordern Korrekturen durch die Ausführenden. Deren Bestreben, idiomatische, also im musikalischen Kontext der Komposition passende Berichtigungen durchzuführen, wird erschwert, da ihnen bekannt ist, dass die Fehler durch vorsätzliche maschinelle Eingriffe entstanden sind.

Zuerst wird die ursprüngliche Komposition gespielt, darauf folgen zwei der erodierten Varianten des Originals.
Die rein elektroakustische vierte Variante bedient sich des interpretierten, instrumentalen Klangmaterials und “korrigiert” dieses wiederum – diesmal aus der Perspektive des Erosionsalgorithmus, in dem ihm eigenen Idiom.

Webern ensemble performing rill, (c) Stephan Polzer

Video of the premiere at mdw Klangtheater as part of the festival Wien Modern, November 12, 2021

wienmodern.at/2021 Event